Psychopathography of Adolf Hitler
miniatur|hochkant|Hitler in einer Rednerpose (um 1929) Unter dem Begriff Adolf Hitlers Psychopathographie wird diejenige psychiatrische Fachliteratur zusammengefasst, in der die These behandelt wird, dass der deutsche Reichskanzler Adolf Hitler (1889–1945) an einer psychischen Erkrankung gelitten habe.
Bereits zu seinen Lebzeiten, aber auch weit über seinen Tod hinaus wurde Hitler immer wieder mit klinisch relevanten Störungsbildern wie „Hysterie“, „Psychopathie“ oder megalomaner und paranoider Schizophrenie in Verbindung gebracht. Unter den Psychiatern, die bei Hitler eine psychische Störung diagnostiziert haben, befinden sich namhafte Persönlichkeiten wie C. G. Jung[1], Walter C. Langer und Erich Fried. Andere Forscher, wie Fritz Redlich, haben in ihren Untersuchungen im Gegenteil den Eindruck gewonnen, dass Hitler wahrscheinlich nicht geisteskrank war.
Problematik der Hitler-Psychopathographie
Dem öffentlichen Interesse entsprechend, das der Privatperson Hitler bis heute entgegengebracht wird, erzielen Hitler-Psychopathographien Medienwirksamkeit. Die Pathographie ist in der Psychiatrie aber nicht gut beleumundet. Auf die Problematik einer Diagnostik ex post, bei der das wichtigste Mittel der Befunderhebung – die psychiatrische Exploration – nicht möglich ist, wurde schon oft hingewiesen;[2] Hans Bürger-Prinz urteilte sogar, dass jegliche Ferndiagnostik außergewöhnlicher Persönlichkeiten einen „verhängnisvollen Missbrauch der Psychiatrie“ darstelle.[3] Wie fehleranfällig die Methode ist, lässt sich bereits angesichts der erheblichen Bandbreite von Geisteskrankheiten erahnen, die Hitler nach und nach zugeschrieben worden sind.
Im Falle von Hitler birgt die Psychopathographie einige besondere Probleme. So haben einige Autoren gewarnt, dass eine Pathologisierung Hitlers dazu führen könne, ihn wenigstens zum Teil von seiner Verantwortung zu entbinden.[4] Andere haben befürchtet, dass sich durch eine Pathologisierung bzw. Dämonisierung Hitlers umgekehrt leicht alle Schuld auf den wahnsinnigen Diktator verlagern lasse, während die irregeleiteten „Massen“ und die Machteliten, die ihm zugearbeitet hatten, entlastet werden.[5] Einige Autoren haben grundsätzlich den Sinn von Versuchen in Frage gestellt, Hitler ‒ z. B. mit psychologischen Mitteln ‒ zu erklären.[6] Am weitesten ging dabei Claude Lanzmann, der solche Versuche als „obszön“ bezeichnete, sie als der Holocaustleugnung benachbart empfand und nach der Fertigstellung seines Films Shoah (1985) immer wieder scharf angriff; besonders kritisierte er Rudolph Binion.[7]
Wie u. a. Jan Ehrenwald (1978) aufgewiesen hat, ist in der Psychiatrie häufig auch die Frage vernachlässigt worden, wie ein möglicherweise psychisch gestörter Hitler diejenige große und begeisterte Anhängerschaft habe gewinnen können, die seine Politik bis 1945 mitgetragen hat.[8] Daniel Goldhagen argumentierte 1996, dass Hitlers politischer Aufstieg gar nicht so sehr durch seine Psychopathologie ermöglicht worden sei, sondern vielmehr durch die prekären sozialen Bedingungen, die in Deutschland in dieser Zeit geherrscht haben.[9] Manche Autoren haben umgekehrt darauf hingewiesen, dass es selbst im Falle einer so verkrüppelnden Krankheit wie der Schizophrenie Beispiele von Betroffenen gebe, die eine Anhängerschaft gefunden und außerordentlich stark beeinflusst haben (z. B. Charles Manson, Jim Jones).[10] Bereits früh wurde auch die Position vertreten, dass Hitler seine Psychopathologie durchaus im Griff gehabt und seine Symptome sogar bewusst eingesetzt habe, um die Gefühle seines Publikum wirkungsvoll zu nutzen.[11] Wieder andere Autoren haben vermutet, dass Hitlers Anhängerschaft selbst psychisch gestört gewesen sei;[12] Nachweise für diese These fehlen bisher.[13] Eine Annäherung an die Frage, wie Hitlers individuelle Psychopathologie mit dem Enthusiasmus seiner Gefolgschaft verzahnt gewesen sein könnte, wurde erstmals 2000 von dem interdisziplinären Autorenteam Matussek/Matussek/Marbach versucht.[14]
Hysterie/Histrionische Persönlichkeitsstörung
Hitler im Reservelazarett Pasewalk (1918)
Die Frage, ob Hitler jemals von einem Psychiater untersucht worden ist, wurde in der Literatur wiederholt gestellt. Oswald Bumke, Psychiater und Zeitgenosse Hitlers, geht davon aus, dass dies niemals der Fall war.[15] Der einzige Psychiater, mit dem Hitler nachweislich in Berührung bekommen ist – der Münchner Professor Kurt Schneider – war nicht Hitlers Arzt.[16] Während ärztliche Dokumente, die Rückschlüsse auf Hitlers körperlichen Gesundheitszustand erlauben, erhalten sind, fehlen entsprechende psychiatrische Unterlagen, die eine Beurteilung seines psychischen Zustandes ermöglichen würden, vollständig.[17]
Im Mittelpunkt der Spekulationen um eine mögliche psychiatrische Evaluierung Hitlers zu dessen Lebzeiten steht sein Aufenthalt im Reservelazarett Pasewalk Ende 1918. Hitler gelangte in dieses Lazarett nach einer Senfgasvergiftung, die er sich in einer Abwehrschlacht in Flandern zuzog. In Mein Kampf erwähnt er diesen Lazarettaufenthalt im Zusammenhang mit seiner schmerzhaften vorübergehenden Erblindung und mit dem „Unglück“ und „Wahnsinn“ von Novemberrevolution und Kriegsniederlage, von dem er während seiner Genesung Kenntnis erhalten und der eine erneute Erblindung ausgelöst habe. Hitler und seine frühen Biographen verschafften diesem Erblindungs-Rückfall große Aufmerksamkeit, da er auf publikumswirksame Weise den Wendepunkt akzentuiert, an dem Hitler sich berufen gefühlt habe, Politiker zu werden.[18]
Jedoch urteilten bereits unter den zeitgenössischen Psychiatern manche, dass ein solcher Rückfall, der organisch nicht zu erklären gewesen wäre, als hysterisches Symptom beschrieben werden müsse.[19] Die Hysteriediagnose hatte ihre größte Popularität mit Sigmund Freuds Psychoanalyse, war in den 1930er und 1940er Jahren aber immer noch gebräuchlich. Ausfälle der Sinnesorgane waren, neben einem egozentrischen und theatralischen Verhalten, typische Symptome. So soll der bedeutende Psychiater Karl Wilmanns in einer Vorlesung geäußert haben: „Hitler hat im Anschluß an seine im Feld erlittene Verschüttung eine hysterische Reaktion gehabt“; Wilmanns verlor daraufhin 1933 seine Stellung.[20] Wegen ähnlicher Äußerungen erlitt auch Hans Walter Gruhle berufliche Nachteile.[21] In der modernen Psychiatrie ist der Ausdruck „Hysterie“ nicht mehr gebräuchlich; entsprechende Störungsbilder werden heute als dissoziative Störung oder histrionische Persönlichkeitsstörung bezeichnet.
Über Hitlers Lazarettaufenthalt ist wenig bekannt. Strittig ist bereits, welche Beschwerden bei ihm in Pasewalk festgestellt wurden. Hitlers Krankenblatt, das eine Diagnose bestätigen oder widerlegen könnte, galt bereits Ende der 1920er Jahre als verschollen und ist auch später nie wieder aufgetaucht.[4] Dennoch nahmen sich z. B. die Autoren der 1992 erschienenen jüngsten Auflage des Sammelwerkes Genie, Irrsinn und Ruhm die Freiheit anzugeben, dass bei Hitler neben körperlichen Erkrankungen (Parkinson, Enzephalitis bzw. Syphilis mit Erblindung) auch eine ganze Reihe psychiatrischer Befunde festgehalten worden sei, darunter eine paranoide Persönlichkeitsakzentuierung mit Verfolgungs- und Größenwahn, narzisstischer und „hysterischer“ Psychopathie mit hysterischer Blindheit bzw. hysterischer Parese, Schizoidie bis hin zu paranoider Schizophrenie mit Leichengifthalluzinationen, Zönästhesien, Bazillophobie, Verfolgungs- und Begnadungswahn. Nachweise werden nicht aufgeführt.[22]
Der Geheimdienstbericht: A Psychiatric Study of Hitler (1943)
Der Geheimdienst des US-Kriegsministeriums (OSS) gab 1943 mehrere psychologische Berichte über die Persönlichkeit Hitlers in Auftrag. In einem davon, der den Titel „A Psychiatric Study of Hitler“ trug, wurde die These entwickelt, dass Hitler in Pasewalk von dem Psychiater Edmund Forster behandelt worden sei, der 1933 aus Angst vor Repressalien Selbstmord begangen habe. Ausgangspunkt des Berichtes sind Auskünfte des Psychiaters Karl Kroner, der ebenfalls 1918 in dem Lazarett tätig war. Kroner bestätigte insbesondere, dass Forster Hitler untersucht und ihm die Diagnose „Hysterie“ gestellt habe.[23] Wiederentdeckt wurde der bis dahin unter Verschluss gehaltene Bericht Anfang der 1970er Jahre von dem amerikanischen Hitler-Biographen John Toland.[24]
Der Roman: Ich, der Augenzeuge (1963)
Der österreichische Arzt und Schriftsteller Ernst Weiß schrieb 1939 im französischen Exil den Roman, Ich, der Augenzeuge, der in Form einer fiktiven ärztlichen Autobiographie von der „Heilung“ eines „hysterischen“ Kriegsblinden A.H. aus Braunau in einem Reichswehrlazarett Ende 1918 berichtet. Weil die Kenntnisse des Arztes den Nazis gefährlich werden könnten, wurde er 1933 in ein KZ verbracht und erst freigelassen, nachdem er die Krankenunterlagen herausgab.
Der Autor Weiß musste wegen seines jüdischen Glaubens befürchten, deportiert zu werden, und beging nach dem Einmarsch der deutschen Truppen in Paris Suizid; sein Roman wurde erst 1963 veröffentlicht. Seine Kenntnisse über Hitlers Lazarettaufenthalt hatte Weiß der zeitgenössischen biographischen Literatur verdankt.[25] Möglicherweise war er in Paris auch dem ebenfalls exilierten Hitler-Biographen Konrad Heiden begegnet.[26] Für die später formulierte These, dass die im Roman vorgenommene Darstellung von Hitlers psychischer Störung und Heilung keine Fiktion sei, sondern auf Insiderkenntnissen beruhe, konnten bis heute keine Nachweise beigebracht werden.[4]
Die Mythenbildung
Trotz fehlender Dokumente haben zahlreiche Forscher und Autoren – dem Roman folgend – die in dem Geheimdienstbericht formulierten Vermutungen bis zu einer vermeintlich gesicherten Hypnosetherapie Hitlers durch Forster fortentwickelt.[4] Diese Rekonstruktionsversuche sind nicht nur deshalb fragwürdig, weil sie alternative Deutungen von vornherein ausschließen. Sie gehen auch nur flüchtig auf den historischen Kontext ein und übersehen sogar, dass Forster ein Hysteriekonzept vertrat, das ihn andere Behandlungsmethoden als die Hypnose hätte vorziehen lassen.[27]
- Rudolph Binion, Historiker an der Brandeis University, hält die vermeintliche Hysteriediagnose für einen Fehlschluss, entwickelte die in der Geheimdienstakte formulierten Thesen in seinem 1976 erschienenen Buch Hitler among the Germans jedoch fort. Binion vermutet, dass Weiß Forster persönlich getroffen und von ihm eine Abschrift des Krankenblattes erhalten hatte, die er seinem Roman dann zugrundelegte. Dem Roman folgend, nimmt Binion dann an, dass Forster den erblindeten, fanatischen Hitler einer Suggestionsbehandlung unterzogen und sich später, nach seiner Suspendierung vom Staatsdienst und aus Angst vor Verfolgung durch die Gestapo, selbst getötet habe.[28] Binions Vermutungen liegen jedoch kaum andere „Beweise“ zugrunde als die Überlieferungen Forsters, wobei nicht einmal sicher nachgewiesen wurde, in welcher Form Forster Kontakt zu Hitler hatte.[29]
- David E. Post, forensischer Psychiater an der Louisiana State University, veröffentlichte 1998 einen Aufsatz, in dem er ohne nachvollziehbare eigene Recherchen die These, dass Forster Hitlers vermeintliche Hysterie mit Hypnose behandelt habe, als erwiesen ansah.[30]
- Teilweise von Binion angeregt, veröffentlichte der britische Neuropsychologe David Lewis 2003 sein Buch The Man Who Invented Hitler, in dem er Forsters Hypnosebehandlung nicht nur als historische Tatsache, sondern auch als Ursache dafür darstellte, dass Hitler sich aus einem gehorsamen Weltkriegssoldaten in einen willensstarken, charismatischen Politiker verwandelt habe. Medienwirksam stilisiert Lewis Forster in seinem Buch zum „Schöpfer“ Hitlers.[31]
- Von Binion angeregt ist auch das 2003 erschienene Buch des deutschen Politikpsychologen und emeritierten Professors der Universität Koblenz, Manfred Koch-Hillebrecht, Hitler. Ein Sohn des Krieges. Koch-Hillebrand versucht Hitler darin eine posttraumatische Belastungsstörung nachzuweisen und beschreibt, wie Forster seinem angeblichen Patienten durch eine Schocktherapie wieder zum einsatzfähigen Soldaten gemacht habe.[32]
- Ebenfalls in Deutschland veröffentlichte 2004 der Jurist und Schriftsteller Bernhard Horstmann sein Sachbuch Hitler in Pasewalk, in dem Forster als „genialer Hypnotiseur“ charakterisiert wird. Auch in diesem Buch werden keine anderen Beweise vorgebracht als die Handlung von Weiß' Roman.[33]
- Auf einer unkritischen Rezeption von Horstmanns Arbeit basiert ein 2005 veröffentlichter Aufsatz des Schriftstellers und Psychiaters Gerhard Köpf, Hitlers psychogene Erblindung, mit dem die in Weiß' Roman entwickelten Thesen erstmals auch in der deutschen medizinischen Fachpresse als nachgewiesene Tatsachen eingeführt wurden.[34] 2006 trug Köpf dieselben Thesen auch in seinem „Lesebuch für die Psychiatrie“ vor und bot als einzigen Nachweis seine eigene Publikation an.[35]
- Franziska Lamott, Professorin für Forensische Psychotherapie an der Universität Ulm, schrieb in einem 2006 veröffentlichten Aufsatz: „[…] die in der Krankenakte verbriefte Behandlung des Gefreiten Adolf Hitler durch den Psychiater Prof. Edmund Forster belegt, dass dieser ihn mittels Hypnose von seiner hysterischen Blindheit befreit hatte“.[36]
Die Demontage des Mythos
Kritische Stellungnahmen zu diesen Thesen erschienen bereits früh, waren jedoch nicht stichhaltig genug begründet, wie z. B. im Falle des Journalisten Ottmar Katz, der in seiner Biographie von Hitlers Leibarzt Theo Morell 1982 vermutete, dass Karl Kroner Anlass gehabt haben könnte, dem amerikanischen Geheimdienst einige Unwahrheiten zu berichten.[37] Eine umfassende Plausibilitätsprüfung wurde erstmals 2008 von dem Berliner Psychiater und Psychotherapeuten Peter Theiss-Abendroth vorgenommen.[38] Weiter demontiert wurde der Mythos von Hitlers Hysteriediagnose und Hypnosetherapie von dem Psychiatriehistoriker Jan Armbruster (Universität Greifswald), der 2009 detailliert aufwies, wie die Geschichte von der angeblichen Behandlung Hitlers durch Forster, die von 1943 bis 2006 immer neue Details erhielt, nicht durch Auswertung historischer Dokumente immer genauer rekonstruiert, sondern durch Kolportage immer weiter ausgeschmückt wurde. Armbrusters Arbeit bietet damit auch die bis heute umfangreichste Kritik an den methodischen Schwächen vieler Hitler-Pathographien.[4]
Walter C. Langer (1943)
Einer der wenigen Autoren, die Hitler eine Hysterie-Diagnose gestellt haben, ohne die Pasewalk-Episode und Hitlers angebliche Behandlung durch Forster als Hauptbeweis heranzuziehen, war der amerikanische Psychoanalytiker Walter C. Langer. Langer erarbeitete seine Studie 1943 im Auftrag des OSS.[39] Er und sein Team führten Interviews mit zahlreichen Personen durch, die den amerikanischen Nachrichtendiensten zur Verfügung standen und die Hitler persönlich kannten, und kamen zu dem abschließenden Urteil, dass Hitler „ein Hysteriker am Rande der Schizophrenie“ sei. Die lange unter Verschluss gehaltene Arbeit wurde 1972 unter dem Titel The Mind of Adolf Hitler publiziert.[40]
Schizophrenie
Viele Momente in Hitlers persönlichen Überzeugungen und in seinem Verhalten ‒ etwa sein Glaube, er sei vom Schicksal auserwählt, das deutsche Volk von dessen vermeintlich gefährlichster Bedrohung, den Juden, zu befreien ‒ sind von Psychiatern bereits zu Hitlers Lebzeiten als Anzeichen einer Psychose bzw. Schizophrenie eingestuft worden.
W. H. D. Vernon (1942) und Henry Murray (1943)
Zu den ersten, die Hitler mit den klassischen Symptomen der Schizophrenie in Verbindung gebracht haben, zählt der kanadische Psychiater W. H. D. Vernon, der dem deutschen Reichskanzler in einem 1942 veröffentlichten Aufsatz Halluzinationen, Stimmenhören, Verfolgungs- und Größenwahn bescheinigte. Vernon schrieb, Hitlers Persönlichkeitsstruktur dürfe, obwohl sie insgesamt in den Bereich des Normalen falle, als dem paranoiden Typ zugehörig beschrieben werden.[41]
Vernons Essay fand ein Jahr später Aufnahme in eine noch weitaus schärfer formulierte Analyse der Persönlichkeit Hitlers, die Henry Murray, Psychologe an der Harvard University, wie Walter C. Langer im Auftrag des Nachrichtendienstes des US-Kriegsministeriums erstellte. Murray gelangte darin zu der Einschätzung, dass Hitler neben hysterischen Anzeichen alle klassischen Symptome der Schizophrenie aufweise: Hypersensibilität, Panikattacken, irrationale Eifersucht, Verfolgungswahn, Allmachtphantasien, Größenwahn, Glauben an ein messianisches Berufensein und extreme Paranoia. Er verortete ihn im Grenzbereich zwischen Hysterie und Schizophrenie, betonte jedoch, dass Hitler über seine pathologischen Tendenzen beträchtliche Kontrolle besitze und sie bewusst einsetze, um die nationalistischen Gefühle der Deutschen und ihren Hass gegen vermeintliche Verfolger anzufachen. Ebenso wie Walter C. Langer hielt Murray es für wahrscheinlich, dass Hitler nach einem Verlust des Glaubens an sich selbst und an seine „Bestimmung“ Suizid begehen werde.[42]
Wolfgang Treher (1966)
Pathographien, in denen der Versuch unternommen wird, Hitler eine voll entwickelte Psychose im klinischen Sinne nachzuweisen, bilden in der psychiatrischen Literatur die Ausnahme. Ein Beispiel ist das 1966 erstmals aufgelegte Buch Hitler, Steiner, Schreber des Freiburger Psychiaters Wolfgang Treher. Treher erklärt in diesem Buch, sowohl Rudolf Steiner, dessen Anthroposophie er scharf kritisiert, als auch Hitler haben an Schizophrenie gelitten.[43]
Edleff Schwaab (1992)
Der klinische Psychologe Edleff Schwaab veröffentlichte 1992 seine Psychobiographie Hitler's Mind, in dem er die Vorstellungswelt Hitlers ‒ besonders seine Obsession mit der vermeintlichen Bedrohung durch die Juden ‒ als Resultat von dessen Paranoia beschreibt. Als Ursache für diese Störung vermutet Schwaab eine traumatische Kindheit, die im Schatten einer depressiven Mutter und eines tyrannischen Vaters gestanden habe.[44]
Paul Matussek, Peter Matussek, Jan Marbach (2000)
Das 2000 erschienene Buch Hitler – Karriere eines Wahns ist eine gemeinsame Arbeit des Psychiaters Paul Matussek, des Medienwissenschaftlers Peter Matussek und des Soziologen Jan Marbach, die mit der Tradition einer eindimensional psychiatrischen Pathographie zu brechen versuchen und sich um einen interdisziplinären Zugang bemühen, bei dem auch sozialgeschichtliche Dimensionen berücksichtigt werden sollen. Im Zentrum der Untersuchung steht darum nicht so sehr eine Rekonstruktion von Hitlers persönlicher Psychopathologie, sondern vielmehr eine Beschreibung der Wechselwirkungen zwischen den individuellen und kollektiven Anteilen an der Dynamik des Hitlerwahns, also des Resonanzverhältnisses zwischen Hitlers – mit psychotischen Symptomen aufgeladener – Führerrolle einerseits und der Faszination andererseits, die diese Rolle bei seinen Anhängern ausgeübt hat. Die Autoren kommen zu dem Schluss, dass die nationalsozialistischen Verbrechen zwar Ausdruck von Wahnsinn gewesen seien, jedoch eines Wahnsinns, der so stark öffentlich akzeptiert worden sei, dass der Psychotiker Hitler und seine Anhänger sich in ihrer „wahnsinnigen“ Weltsicht gegenseitig stabilisiert haben.[14]
Frederic L. Coolidge, Felicia L. Davis, Daniel L. Segal (2007)
Die methodisch aufwändigste psychologische Evaluierung Hitlers nahm 2007 ein Forscherteam der University of Colorado vor. Diese Untersuchung unterscheidet sich von allen früheren nicht nur durch eine offene, explorative Fragestellung, bei der systematisch geprüft wurde, auf welche psychischen Störungen Hitlers Verhalten möglicherweise hingewiesen hat und auf welche nicht; es war auch die erste Hitler-Pathographie, die konsequent empirisch angelegt war. Die beteiligten Psychologen und Historiker sammelten überlieferte Berichte von Personen, die Hitler gekannt hatten, und werteten diese nach Maßgabe eines selbst entwickelten diagnostischen Instrumentariums aus, mit dem ein breites Spektrum von Persönlichkeits-, klinischen und neuropsychologischen Störungen gemessen werden kann.[45] Hitler wies bei dieser Studie starke Züge von paranoider Schizophrenie, aber auch von antisozialen, sadistischen und narzisstischen Persönlichkeitsstörungen und einer ausgeprägten posttraumatischen Belastungsstörung auf.[10]
Mögliche organische Auslöser psychotischer Symptome
Wiederholt haben Wissenschaftler nach möglichen organischen Ursachen für Hitlers in der Literatur beschriebenen psychotischen Symptome gesucht, so z. B. der Psychiater Günter Hesse, der davon überzeugt ist, dass Hitler auch an Spätfolgen der im Ersten Weltkrieg erlittenen Gasvergiftung gelitten habe.[46]
Syphilis
Hitlers Gliederzittern in den letzten Lebensjahren, das Ellen Gibbels in den späten 1980er Jahren unter weiter Anerkennung der Forschungsgemeinschaft auf eine Parkinson-Erkrankung zurückgeführt hat, ist wiederholt auch als Symptom einer fortgeschrittenen Syphiliserkrankung gedeutet worden, zuletzt von der amerikanischen Historikerin Deborah Hayden. Hayden bringt die progressive syphilitische Paralyse, an der Hitler nach ihrer Auffassung seit 1942 gelitten habe, mit seinem geistigen Niedergang in diesen letzten Lebensjahren in Zusammenhang, insbesondere mit seinen „paranoiden Zornausbrüchen“.[47] Der Mediziner Fritz Redlich (siehe weiter unten) berichtet hingegen, es liegen keinerlei Hinweise dafür vor, dass Hitler Syphilis gehabt habe.
Amphetamin-Missbrauch
Der Psychiater Leonard L. Heston (University of Minnesota) und die Krankenschwester Renate Heston berichten in ihrem 1980 erschienenen Buch The Medical Case Book of Adolf Hitler, für das sie eine Fülle von Krankenberichten sichteten, dass Hitler in seinen letzten Lebensjahren regelmäßig Amphetamine eingenommen und gespritzt bekommen habe, stimulierende Drogen, zu deren möglichen Nebenwirkungen psychotische Symptome wie z. B. paranoide Wahnvorstellungen gehören.[48]
Parkinson-Krankheit
Die Kölner Neurologin und Psychiaterin Ellen Gibbels hat sich seit den späten 1980er Jahren mit der Parkinson-Krankheit beschäftigt, an der Hitler ihrer Einschätzung nach gelitten habe,[49] und veröffentlichte 1994 einen Aufsatz, in dem sie der Frage nachging, ob seine Nervenkrankheit Hitler auch psychisch beeinträchtigt habe.[50]
Psychopathie/Antisoziale Persönlichkeitsstörung
Angesichts der Unmenschlichkeit seiner Verbrechen wurde Hitler bereits früh auch mit der „Psychopathie“ in Verbindung gebracht, einer schweren Persönlichkeitsstörung, deren wichtigste Symptome ein weitgehendes oder vollständiges Fehlen von Empathie, sozialer Verantwortung und Gewissen sind. Der biologisch determinierte Begriff spielt in der psychiatrischen Forensik heute immer noch eine Rolle, in den modernen medizinischen Klassifikationssystemen (DSM-IV und ICD-10) kommt er jedoch nicht mehr vor; bei entsprechenden Störungsbildern spricht man dort von einer antisozialen Persönlichkeitsstörung. Die Symptomatik ist allerdings selten, und anders als im populären Diskurs, wo die Einstufung von Hitler als „Psychopath“ bis heute zu den Gemeinplätzen gehört,[51] haben Psychiater ihm die Diagnose „Psychopathie“ bzw. „antisoziale Persönlichkeitsstörung“ nur gelegentlich gestellt.
Gustav Bychowski (1948)
Eine der frühesten Hitler-Pathographien, in der nicht nur psychologische, sondern auch historische und soziologische Gesichtspunkte berücksichtigt werden, ist in dem 1948 veröffentlichtem Sammelband Dictators and Disciples des polnisch-amerikanischen Psychiaters Gustav Bychowski[52] enthalten. Bychowski fragt darin nach den Gemeinsamkeiten historischer Persönlichkeiten, die erfolgreich einen Staatsstreich durchgeführt haben. Er vergleicht Hitler mit Julius Caesar, Oliver Cromwell, Robespierre und Stalin und kommt zu dem Ergebnis, dass diese Männer eine Fülle von Zügen aufweisen, die als „psychopathisch“ einzustufen seien, wie z. B. die Tendenz, Impulse auszuagieren oder eigene feindselige Impulse auf andere Personen oder Gruppen zu projizieren.[53]
Desmond Henry, Dick Geary, Peter Tyrer (1993)
Das interdisziplinäre britische Autorenteam Desmond Henry, Dick Geary und Peter Tyrer veröffentlichte 1993 einen Aufsatz, in dem die Autoren übereinstimmend ihre Auffassung vortrugen, dass Hitler an einer antisozialen Persönlichkeitsstörung im Sinne der ICD-10 gelitten habe. Der Psychiater Tyrer war davon überzeugt, dass bei Hitler darüber hinaus auch Merkmale von Paranoia und einer histrionischen Persönlichkeitsstörung vorlegen haben.[54]
Tiefenpsychologische Perspektiven
Einige Autoren, die einer tiefenpsychologischen Lehre wie z. B. der psychoanalytischen Schule Sigmund Freuds angehören, waren weniger als ihre psychiatrisch orientierten Kollegen daran interessiert, bei Hitler eine bestimmte klinische Störung zu diagnostizieren, als vielmehr daran, sein ungeheuerlich destruktives Verhalten zu erklären, wobei als Motoren, die menschliches Verhalten und die Entwicklung eines Charakters antreiben, bei den tiefenpsychologischen Konzepten vor allem unbewusste Prozesse vermutet werden. Da diese in der frühen Jugend wurzeln, steht im Mittelpunkt dieser Arbeiten meist der Versuch, das Szenario von Hitlers Kindheit und Jugend zu rekonstruieren. Manche Autoren, wie z. B. Gerhard Vinnai, gehen über eine rein tiefenpsychologische Analyse dann aber weit hinaus.
miniatur|hochkant|Klara Hitler, geb. Pölzl, die Mutter.
Erich Fromm (1973)
Eine der bekanntesten Hitler-Pathographien präsentierte der deutsch-amerikanische Psychoanalytiker Erich Fromm in seinem 1973 veröffentlichten Buch Anatomie der menschlichen Destruktivität. Fromm versucht darin, die Ursachen menschlicher Gewalttätigkeit zu bestimmen. Seine Kenntnisse über die Person Hitlers entnimmt er dem Erlebnisbericht von Hitlers Jugendfreund August Kubizek (1953), der Hitler-Biographie von Werner Maser (1971) und vor allem einer Arbeit von Bradley F. Smith über Hitlers Kindheit und Jugend.[55]
Im Zentrum dieser Pathographie Hitlers, die weitgehend Sigmund Freuds Konzept der Psychoanalyse folgt, steht die These, dass Hitler ein unreifer, selbstbezogener Träumer gewesen sei, der nicht seinen kindlichen Narzissmus überwunden und die Erniedrigungen, denen er infolge seiner mangelnden Realitätsanpassung ausgesetzt gewesen sei, mit Zerstörungslust (im psychoanalytischen Jargon: Nekrophilie) zu bewältigen versucht habe. Die Zeugnisse dieser Lust – z. B. der sog. Nerobefehl – seien so ungeheuerlich, dass man davon ausgehen müsse, dass Hitler nicht nur destruktiv gehandelt habe, sondern von einem destruktiven Charakter getrieben gewesen sei.
Helm Stierlin (1975)
Der deutsche Psychoanalytiker und Familientherapeut Helm Stierlin publizierte 1975 sein Buch Adolf Hitler. Familienperspektiven, in dem er ähnlich wie Fromm die Frage nach den psychischen und motivationalen Grundlagen für Hitlers Aggressivität und Zerstörungsleidenschaft stellt. Im Mittelpunkt seiner Untersuchung steht die Beziehung Hitlers zu seiner Mutter Klara Hitler, die ihren Sohn nach Stierlins Auffassung delegiert hat, Ansprüche zu erfüllen, die ihren eigenen frustrierten Hoffnungen entsprachen, aber auch für den Sohn unmöglich zu befriedigen waren.[56]
Alice Miller (1980)
miniatur|hochkant|Alois Hitler, der Vater. Die schweizerische Kindheitsforscherin Alice Miller hat Adolf Hitler einen Abschnitt in ihrem 1980 veröffentlichten Buch Am Anfang war Erziehung gewidmet, wobei sie ihre Kenntnisse über die Person Hitlers vor allem biographischen und pathographischen Arbeiten wie denen von Rudolf Olden (1935), Konrad Heiden (1936/37), Franz Jetzinger (1958), Joachim Fest (1973), Helm Stierlin (1975) und John Toland (1976) entnimmt. Miller ist davon überzeugt, dass Hitlers von einem autoritäten und oft brutalen Vater dominiertes Elternhaus als „Prototyp eines totalitären Regimes“ charakterisiert werden könne und dass es die demütigende und erniedrigende Behandlung und die Prügel waren, die Hitler als Kind von seinem Vater erlitten hat, die aus ihm die hassvolle und zerstörerische Persönlichkeit gemacht haben, unter der später Millionen von Menschen leiden mussten. Auch die Mutter sei, nachdem drei vor Hitler geborene Geschwister früh verstarben, kaum in der Lage gewesen, sich ihrem Sohn liebevoll zuzuwenden. Hitler habe sich mit dem tyrannischen Vater bereits früh identifiziert und das Trauma seines Elternhauses auf Deutschland übertragen, wobei die Zeitgenossen ihm deshalb willig gefolgt seien, weil ihre Kindheiten ähnlich verlaufen seien.
Miller wies auch auf eine mögliche Geisteskrankheit von Johanna Pölzl, der eigensinnigen Schwester von Klara Hitler, hin, die mit der Familie während Hitlers gesamter Kindheit zusammenlebte. Nach Aussagen von Zeitzeugen war die „Hanni-Tante“, die bereits 1911 verstarb, entweder schizophren oder debil.[57]
Norbert Bromberg, Verna Volz Small (1983)
Eine weitere Psychopathographie haben 1983 der New Yorker Psychoanalytiker Norbert Bromberg (Albert Einstein College of Medicine) und die Schriftstellerin Verna Volz Small vorgelegt.[58] In diesem Buch, das den Titel Hitler's Psychopathology trägt, begründen Bromberg und Small ihre Überzeugung, dass viele von Hitlers Selbstzeugnissen und Taten als Ausdruck einer ernsthaften Persönlichkeitsstörung zu werten seien. Bei der Untersuchung seiner familiären Herkunft, seiner Kindheit und Jugend und seines Verhaltens als Erwachsener, Politiker und Machthaber finden sie zahlreiche Hinweise, dass Hitler sowohl dem Störungsbild einer narzisstischen Persönlichkeit als auch dem einer Borderline-Persönlichkeit entsprochen habe. Brombergs und Smalls Arbeit ist vorgeworfen worden, dass sie auf unzuverlässigen Quellen basiere und darum u. a. auch die Frage nach Hitlers vermuteter Homosexualität allzu spekulativ behandle.[59]
Die Auffassung, dass bei Hitler eine narzisstische Persönlichkeitsstörung vorgelegen habe, war jedoch nicht neu. Alfred Sleigh z. B. hatte sie schon 1966 vertreten.[60]
George Victor (1999)
Der Psychotherapeut George Victor, dessen Interesse besonders dem Antisemiten Hitler gilt, vermutet in seinem 1999 veröffentlichten Buch Hitler: The Pathology of Evil, Hitlers schwerwiegende Persönlichkeitsstörung ‒ sein Selbsthass und insbesondere sein Hass auf die Juden ‒ habe ihren Ursprung in den Misshandlungen, die er als Kind durch seinen Vater erlitten habe, von dem Hitler geglaubt habe, dass er von Juden abstamme.[61]
Gerhard Vinnai (2004)
Einen psychoanalytischen Ausgangspunkt hat auch die 2004 veröffentlichte Arbeit Hitler ‒ Scheitern und Vernichtungswut des Sozialpsychologen Gerhard Vinnai. Vinnai unterzieht darin Hitlers Buch Mein Kampf einer tiefenpsychologischen Deutung und versucht zu rekonstruieren, wie Hitler vor dem Hintergrund seiner Kindheit und Jugend seine Erfahrungen im Ersten Weltkrieg verarbeitet habe. Ähnlich wie Theodore Dorpat, dessen Buch ein Jahr zuvor erschienen war (siehe weiter unten), führt Vinnai das zerstörerische Potential in Hitlers Psyche nicht so sehr auf frühkindliche Erlebnisse, sondern vor allem auf eine Traumatisierung zurück, die Hitler als Soldat im Ersten Weltkrieg erlitten habe. Weil davon nicht allein Adolf Hitler, sondern ein erheblicher Teil der deutschen Bevölkerung betroffen war, führt diese Akzentverlagerung den Autor zwangsläufig heraus aus dem psychoanalytischen Diskurs und hinein in sozialpsychologische Überlegungen, etwa zu den Fragen, wie Hitlers Traumatisierung in sein politisches Weltbild eingegangen ist und warum er die Massen damit faszinieren konnte.[62]
Singuläre Positionen
Thesen wie die, dass Hitlers Persönlichkeit und sein Verhalten Züge einer histrionischen oder antisozialen Persönlichkeitsstörung oder von Schizophrenie aufgewiesen haben, sind in der Gemeinschaft der Psychohistoriker nicht unumstritten, finden dort aber auch viel Übereinstimmung. Dies gilt nicht für die nachfolgend genannten Autoren, die mit ihren Diagnosen weitgehend allein dastehen.
Neuropsychologische Diagnose: Colin Martindale, Nancy Hasenfus, Dwight Hines (1976)
Die Psychiater Colin Martindale, Nancy Hasenfus und Dwight Hines (University of Maine) vermuteten in einem 1976 veröffentlichten Aufsatz, dass Hitler an einer Unterfunktion der linken Hirnhemisphäre gelitten habe, und berufen sich dabei auf das Zittern seiner linken Gliedmaßen, seine Tendenz zu nach links gewandten Augenbewegungen und das angebliche Fehlen des linken Hoden. Als Hinweise darauf, dass Hitlers Verhalten von der rechten Hirnhemisphäre dominiert gewesen sei, werten sie u. a. seine Neigung zum Irrationalen, seine akustischen Halluzinationen, seine Hypochondrie und seine unkontrollierten Wutausbrüche. Auch die beiden grundlegenden Elemente seiner politischen Weltanschauung ‒ die Lebensraum-Ideologie und der Antisemitismus ‒ können nach Überzeugung der Autoren als Folge einer Dominanz der rechten Hirnhälfte beschrieben werden.[63]
Borderline-Persönlichkeitsstörung
Da die Charakterzüge Hitlers, mit denen Psychohistoriker sich besonders beschäftigt haben, weder eindeutig als neurotisch, noch eindeutig als psychotisch klassifiziert werden können, sind einzelne Autoren zu der Auffassung gelangt, dass Hitlers Symptomatik den Kriterien einer Borderline-Persönlichkeitsstörung entsprochen habe. Ursprünglich verstand man unter einer „Borderline-Persönlichkeitsstörung“ eine Störung im Grenzbereich von Neurose und Schizophrenie; Gregory Zilboorg hat dafür den Ausdruck „ambulante Schizophrenie“ geprägt.[64] Ende der 1970er Jahre wurde die Begrifflichkeit jedoch neu definiert. Symptombilder im Übergang von Neurose und Psychose wurden in „schizotypische Persönlichkeitsstörung“ umbenannt, und der Ausdruck „Borderline-Persönlichkeitsstörung“ ist seither für eine komplexe posttraumatische Belastungsstörung reserviert, deren Kennzeichen Impulsivität und Instabilität in zwischenmenschlichen Beziehungen, Stimmung und Selbstbild sind.
Borderline-/Schizotypische Persönlichkeitsstörung: Robert G. L. Waite (1977)
Der amerikanische Historiker Robert G. L. Waite (Williams College), der sich bereits seit 1949 um eine interdisziplinäre Erforschung des Nationalsozialismus bemühte, bei der sowohl geschichtswissenschaftliche als auch psychoanalytische Methoden herangezogen werden, veröffentlichte 1977 seine Studie The Psychopathic God: Adolf Hitler, in der er davon ausging, dass Hitlers Karriere ohne eine Berücksichtigung seiner pathologischen Persönlichkeit nicht verstanden werden könne. Waite trug darin die These vor, dass Hitler an einer Borderline-Persönlichkeitsstörung gelitten habe und verweist dabei u. a. auf Hitlers Ödipuskomplex, sein infantiles Phantasieren, seine sprunghafte Widersprüchlichkeit und seine angebliche Koprophilie und Urophilie.[65] Waites Auffassung entspricht zum Teil der des Wiener Psychiaters und Buchenwald-Überlebenden Ernest A. Rappaport, der Hitler bereits 1975 als „ambulanten Schizophrenen“ bezeichnet hatte.[66]
Borderline-Persönlichkeitsstörung/Posttraumatische Belastungsstörung: Theodore Dorpat (2003)
Eine Borderline-Persönlichkeitsstörung im heutigen Sinne (als komplexe posttraumatische Belastungsstörung) wurde Hitler von Theodore Dorpat, einem niedergelassenen Psychiater in Seattle, zugeschrieben. In seinem 2003 veröffentlichten Buch Wounded Monster schreibt Dorpat, dass die Störung bei Hitler bereits im Alter von 11 Jahren manifest gewesen sei, und nennt als Ursachen Hitlers chronisches Kindheitstrauma (die körperliche und seelische Misshandlung durch den Vater und das erzieherische Versagen der depressiven Mutter) und ein im Ersten Weltkrieg über Jahre hinweg erlittenes Fronttrauma. Beides erkläre, dass Hitler anschließend weder für soziale noch für intellektuelle oder berufliche Bestrebungen vorbereitet gewesen sei. Dorpat arbeitet auch den Zusammenhang zwischen der Traumatisierung und den Persönlichkeitszügen heraus, die für Hitler später so kennzeichnend waren, wie seine Sprunghaftigkeit, seine Böswilligkeit, der sadomasochistische Charakter seiner menschlichen Beziehungen, seine menschliche Gleichgültigkeit und sein Vermeiden von Scham.[67]
Dangerous Leader Disorder: John D. Mayer (1993)
Der amerikanische Persönlichkeitspsychologe John D. Mayer (University of New Hampshire) veröffentlichte 1993 einen Aufsatz, in dem er für zerstörerische Persönlichkeiten wie Hitler eine eigene psychiatrische Kategorie anregte: ein Dangerous Leader Disorder (DLD; deutsch etwa: „Störung gefährlicher Führer“). Mayer nannte drei Gruppen von symptomatischen Verhaltenseigentümlichkeiten: 1. Gleichgültigkeit (manifest z. B. als Mord an Gegnern, Familienangehörigen, Staatsbürgern oder als Völkermord); 2. Intoleranz (manifest z. B. als Betreiben von Pressezensur, einer Geheimpolizei oder als Duldung von Folter); 3. Selbstüberhöhung (manifest z. B. als Selbsteinschätzung als „Einiger“ eines Volkes, als Aufrüstung oder Überschätzung der eigenen militärischen Macht, als Identifikation mit Religion bzw. Nationalismus oder als Verkündigung eines „großen Plans“). Mayer verglich Hitler mit Stalin und Saddam Hussein, und erklärtes Ziel seines psychiatrischen Kategorisierungsversuches war es, der internationalen Gemeinschaft ein diagnostisches Instrumentarium in die Hand zu geben, das es ihr erleichtern würde, gefährliche Führerpersönlichkeiten in gegenseitigem Konsens als solche zu erkennen und gegen sie vorzugehen.[68]
Bipolare Störung: Jablow Hershman, Julian Lieb (1994)
Die Schriftstellerin Jablow Hershman und der Psychiater Julian Lieb veröffentlichten 1994 ihr gemeinsames Buch A Brotherhood of Tyrants, in dem sie auf der Grundlage bekannter biografischer Literatur die These entwickelten, dass Hitler ‒ ebenso wie Napoleon Bonaparte und Stalin ‒ nicht nur manisch-depressiv gewesen sei, sondern dass es gerade diese Störung gewesen sei, die ihn erst in die Politik getrieben und dann zum Diktator gemacht habe. Während viele manisch Depressive in der Psychiatrie enden, treibe dieselbe Störung andere Menschen an, politische Macht zu suchen. Sobald dies gelinge, zeigen die Betroffenen Merkmale psychotischer Tyrannei, wie übertriebenes Selbstbewusstsein und Größenwahn.[69]
Asperger-Syndrom: Michael Fitzgerald (2004)
Der irische Professor für Kinderpsychiatrie, Michael Fitzgerald, der im Rahmen seiner Autismusstudien seit 1991 eine Fülle von Pathographien herausragender historischer Persönlichkeiten veröffentlicht hat, stuft Adolf Hitler in seinem 2004 veröffentlichten Sammelwerk Autism and creativity als „autistischen Psychopathen“ ein. Als „autistische Psychopathie“ bezeichnete der österreichische Arzt Hans Asperger 1944 das später nach ihm benannte, dem frühkindlichen Autismus verwandte Asperger-Syndrom; mit „Psychopathie“ im Sinne einer antisozialen Persönlichkeitsstörung hat dieses nichts zu tun. Fitzgerald hält viele von Hitlers überlieferten Zügen für ausgesprochen autistisch, besonders seine vielfältigen Obsessionen, seinen starrenden, leblosen Blick, seine soziale Unbeholfenheit, sein geringes Interesse an Frauen, seinen Mangel an persönlichen Freundschaften und seine Neigung zum monologischen Reden, die mit einer Unfähigkeit zu echten Gesprächen verbunden gewesen sei.[70]
Gegenpositionen
Viele andere Autoren haben Hitler als zynischen Manipulator oder als Fanatiker beschrieben, aber bestritten, dass er ernsthaft geistig gestört gewesen sei; darunter die britischen Historiker Alan Bullock, Hugh Trevor-Roper und Alan J. P. Taylor, und in jüngerer Zeit z. B. auch der Psychiater Manfred Lütz.[71] Der amerikanische Psychologe Glenn D. Walters schrieb 2000: „Vieles in der Debatte über Hitlers langfristigen geistigen Gesundheitszustand ist wahrscheinlich fraglich, denn selbst wenn er an erheblichen psychiatrischen Problemen gelitten hätte, so erlangte er die höchste Macht in Deutschland eher trotz dieser Schwierigkeiten als durch sie.“[72]
Erik H. Erikson (1950)
Der Psychoanalytiker und Entwicklungspsychologe Erik H. Erikson hat Adolf Hitler ein Kapitel in seinem Buch Kindheit und Gesellschaft gewidmet. Obwohl er in Hitlers Selbstzeugnissen Hinweise auf einen nicht befriedigend gelösten Ödipuskonflikt entdeckt und Hitler als „histrionischen und hysterischen Abenteurer“ bezeichnet, hebt er hervor, dass Hitler ein solcher Schauspieler gewesen sei, dass seine Selbstdarstellung mit gewöhnlichen diagnostischen Mitteln nicht erfasst werden könne. Zwar habe Hitler möglicherweise eine gewisse Psychopathologie aufgewiesen, er sei mit dieser aber äußerst kontrolliert umgegangen und habe sie gezielt eingesetzt.[73]
Terry L. Brink (1974)
Der Adler-Schüler Terry L. Brink veröffentlichte 1975 einen Aufsatz The case of Hitler, in dem er ebenfalls zu dem Ergebnis gelangte, dass nach einer gewissenhaften Auswertung aller Zeitzeugnisse für eine Geisteskrankheit Hitlers keine ausreichende Beweisgrundlage bestehe. Zwar seien viele von Hitlers Verhaltensweisen als Versuche zu verstehen, eine schwierige Kindheit zu überwinden. Dennoch seien viele der Dokumente und Aussagen, aus denen Schlussfolgerungen auf eine geistige Störung Hitlers gezogen worden sind, unglaubwürdig. Zu stark berücksichtigt worden sei z. B. die alliierte Propaganda sowie Erfindungen von Personen, die sich von Hitler aus persönlichen Motiven heraus zu distanzieren versucht haben.[74]
Fritz Redlich (1998)
Eine der umfassendsten Hitler-Pathographien stammt von dem Neurologen und Psychiater Fritz Redlich. Redlich, der 1938 aus Österreich in die USA emigrierte, gilt als einer der Begründer der amerikanischen Sozialpsychiatrie. In seinem 1998 veröffentlichten Buch Hitler: Diagnosis of a Destructive Prophet, an dem er 13 Jahre lang gearbeitet hat, gelangt Redlich zu der Überzeugung, dass Hitler zwar genug Paranoia und Abwehrmechanismen gezeigt habe, um „ein psychiatrisches Lehrbuch damit zu füllen“, dass er wahrscheinlich aber nicht geisteskrank gewesen sei. Seine paranoiden Wahnvorstellungen „könnten als Symptome einer geistigen Störung gesehen werden, der größte Teil der Persönlichkeit funktionierte aber normal“. Hitler habe „gewusst, was er tat, und er tat es mit Stolz und Begeisterung“.[75]
Siehe auch
Literatur
- Jan Armbruster: Die Behandlung Adolf Hitlers im Lazarett Pasewalk 1918: Historische Mythenbildung durch einseitige bzw. spekulative Pathographie, in: Journal für Neurologie, Neurochirurgie und Psychiatrie, 2009, Band 10 (4), S. 18-22
- Frederic L. Coolidge, Felicia L. Davis, Daniel L. Segal: Understanding Madmen: A SSM-IV Assessment of Adolf Hitler, in: Individual Differences Research, 2007, Band 5, S. 30-43
- Ron Rosenbaum: Explaining Hitler: The Search for the Origins of His Evil. Harper Perennial, New York 1999, ISBN 006095339X
Einzelnachweise
- ^ C. G. Jung: The Psychology of Dictatorship/Diagnosing the Dictators/Jung Diagnoses the Dictators, in: C. G. Jung Speaking: Interviews and Encounters, hg. v. William McGuire, R. F. C. Hull, London: Thames and Hudson, 1978, S. 91-93, 115-135, 136-140
- ^ z.B. Susanne Hilken: Wege und Probleme der Psychiatrischen Pathographie, Karin Fischer, Aachen, 1993
- ^ Hans Bürger-Prinz: Ein Psychiater berichtet, Hoffmann & Campe, 1971, ISBN 3455007406
- ^ a b c d e Armbruster (2009)
- ^ Als ein Volk ohne Schatten!
- ^ Der jüdische Theologe und Holocaust-Überlebende Emil Fackenheim z. B. war der Auffassung, dass ein so radikales Böses wie das Hitlers von Menschen nicht erklärt werden könne, sondern höchstens von Gott, und der schweige sich darüber aus (Emil Fackenheim and Yehuda Bauer: The Temptation to Blame God, in: Rosenbaum (1999))
- ^ Claude Lanzmann and the War Against the Question Why, in: Rosenbaum (1999), S. 251-266; Claude Lanzmann: Hier ist kein Warum, in: Stuart Liebman (Hg.): Claude Lanzmann's Shoah: Key Essays, Oxford University Press, 2007, ISBN 0195188640; Claude Lanzmann, Cathy Caruth, David Rodowick: The Obscenity of Understanding. An Evening with Claude Lanzmann, in: American Imago, 48, 1991, S. 473-495
- ^ Jan Ehrenwald: The ESP Experience: A Psychiatric Validation, Basic Books, 1978, ISBN 0465020569, Abschnitt Hitler: Shaman, Schizophrenic, Medium?
- ^ Daniel Goldhagen: Hitlers willige Vollstrecker, Siedler, 1996, ISBN 388680593X
- ^ a b Coolidge u. a. (2007)
- ^ z. B. Murray (1943)
- ^ z.B. Langer (1943); William Eckhardt: The Values of Fascism, in: Journal of Social Issues, 24, 1968, S. 89-104; Hyman Muslin: Adolf Hitler. The Evil Self, in: Psychohistory Review, 20, 1992, S. 251-270; Joseph Berke: The Wellsprings of Fascism: Individual Malice, Group Hatreds and the Emergence of National Narcissism, Free Associations, Vol. 6, Part 3 (Number 39), 1996; Zvi Lothane: Omnipotence, or the delusional aspect of ideology, in relation fo love, power, and group dynamics, in: American Journal of Psychoanalysis, 1997, 57 (1), S. 25-46
- ^ Psychologische Untersuchung von Naziführern haben nicht ergeben, dass diese gestört waren (z. B. Eric A. Zillmer, Molly Harrower, Barry A. Ritzler, Robert P. Archer: The Quest for the Nazi Personality. A Psychological Investigation of Nazi War criminals Routledge, 1995, ISBN 0805818987)
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- ^ Adolf Hitler: Mein Kampf, 13. Auflage, 1933, S. 220–225
- ^ Oswald Bumke: Erinnerungen und Betrachtungen. Der Weg eines deutschen Psychiaters, 2. Aufl. Richard Pflaum, München, 1953; vgl. auch Murray (1943)
- ^ Werner Pieper: Highdelberg: Zur Kulturgeschichte der Genussmittel und psychoaktiven Drogen, 2000, S. 228; R. Lidz, H. R. Wiedemann: Karl Wilmanns (1873–1945). … einige Ergänzungen und Richtigstellungen, in: Fortschritte der Neurologie, 1989, Band 57, S. 160–161
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- ^ John Toland: Adolf Hitler, Gustav Lübbe, Bergisch-Gladbach, 1977, ISBN 3-7857-0207-8
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- ^ Desmond Henry, Dick Geary, Peter Tyrer: Adolf Hitler. A Reassessment of His Personality Status, in: Irish Journal of Psychological Medicine, Band 10, 1993, S. 148-151
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- ^ Ernest A. Rappaport: Anti-Judaism. A psychohistory, Chicago: Perspective Press, 1975, ISBN 0960338209
- ^ Theodore Dorpat: Wounded Monster. Hitler's Path from Trauma to Malevolence, University Press of America, 2003, ISBN 0761824162
- ^ John D. Mayer: The emotional madness of the dangerous leader, in: Journal of Psychohistory, 20, 1993, S. 331-348
- ^ D. Jablow Hershman, Julian Lieb: A Brotherhood of Tyrants: Manic Depression and Absolute Power, Amherst, NY: Prometheus Books, 1994, ISBN 0879758880
- ^ Michael Fitzgerald: Autism and creativity: is there a link between autism in men and exceptional ability?, Routledge, 2004, ISBN 1583912134, S. 25-27
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- ^ Glenn D. Walters, Lifestyle theory: past, present, and future, Nova Science Publishers, 2006, ISBN 1600210333, S. 43
- ^ Erik H. Erikson: Childhood and Society, New York, London: W. W. Norton, 1963, ISBN 0-393-31068-X (Erstausgabe 1950)
- ^ Terry L. Brink: The case of Hitler: An Adlerian perspective on psychohistory, in: Journal of Individual Psychology, 1975, Band 21, S. 23-31
- ^ Fritz Redlich: Hitler: Diagnosis of a Destructive Prophet, Oxford University Press, 1998, ISBN 0195057821; deutsche Ausgabe: Hitler. Diagnose des destruktiven Propheten, Werner Eichbauer, 2002, ISBN 3901699236; Dr. Frederick C. Redlich, 93, Biographer of Hitler New York Times
Kategorie:Adolf Hitler Kategorie:Psychische Störung als Thema Kategorie:Geschichte der Psychiatrie